Die Erzählungen stellen Zusammenhänge zwischen den vielfältigen Spuren her, welche die koloniale Geschichte in der Stadt hinterlassen hat. Sie verweisen auf historische Ereignisse und berichten über das Wirken diverser Akteure des Kolonialismus.
Die Erzählungen stellen Zusammenhänge zwischen den vielfältigen Spuren her, welche die koloniale Geschichte in der Stadt hinterlassen hat. Sie verweisen auf historische Ereignisse und berichten über das Wirken diverser Akteure des Kolonialismus.
Juri und Miranha kamen im Jahr 1820 aus Brasilien nach München. Sie wurden von Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich Philipp von Martius verschleppt. Diese hatten im Auftrag des bayerischen Königs Maximilian I. Joseph eine Brasilien-Expedition durchgeführt. Die beiden begrenzten sich aber nicht auf die Tier- und Pflanzenwelt, vielmehr stellten sie auch umfangreiche Forschungen zur Bevölkerung des Amazonas an, brachten eine Menge ethnographischer Objekte mit nach Bayern – und sie verschleppten zwischen fünf und zehn Kindern. Martius "verschenkte" einige, andere überlebten die Seereise nach Europa nicht. Juri und Miranha verstarben in München innerhalb weniger Monate und wurden auf dem Alten Südlichen Friedhof beerdigt. Ihre Grabstelle ist heute aufgelassen und die Grabplatte ist als spezifisch Münchner Bronzekunst im Stadtmuseum ausgestellt.
Juri und Miranha wurden nach ihren jeweiligen Sprachgruppen so genannt, ihre wirklichen Namen sind nicht bekannt. Später wurden sie Johannes und Isabella getauft und in königliche Obhut gegeben. Sie wurden vermessen, gezeichnet und ihr Verhalten wurde akribisch dokumentiert. Kommunikation untereinander war den Kindern nicht möglich, weil sie nicht die gleiche Sprache beherrschten.
Direkt nach der Ankunft von Juri und Miranha in München wurden sie im Hause des Forschers Spix der Schaulust der Bevölkerung preisgegeben. Nachdem die Neugierigen sich zuvor in Listen hatten eintragen müssen, konnten sie dann die beiden Kinder begaffen und den Forschern Fragen zu deren Gewohnheiten stellen. Diese Möglichkeit wurde von mehreren Hundert Münchner*innen wahrgenommen. Auch international gab es großes Interesse an den Kindern. So äußerte das Journal de Paris "die Hoffnung, die baierischen Gelehrten würden sich einige Tage zu Paris aufhalten, und ihre junge Menschenfresserin mit ihrem Gefährten der öffentlichen Neugierde preisgeben."
Zusätzlich angeregt wurde diese Schaulust durch die Berichte Martius‘ über angebliche Menschenfresser und Hexerei bei der amazonischen Bevölkerung und durch mitgebrachte Kuriosa wie ein vermeintlich mit Menschenzähnen besetztes Reibebrett. Neben dieser ganz direkten und persönlichen Zurschaustellung im Hause Spix‘ wurden Juri und Miranha auch vielfach gezeichnet. Um die gesammelten Gegenstände – Kleidung, Schmuck, Masken, Waffen, Musikinstrumente – möglichst authentisch darzustellen, standen Juri und Miranha für einen Atlas Modell und sollten die verschiedensten amazonischen „Stämme“ repräsentieren.
Durch diesen Atlas, die Aufzeichnungen von der Reise, unzählige Urkunden, Auszeichnungen und Briefwechsel gibt es viele Möglichkeiten, sich den Blick von Martius und Spix auf die Welt zu erschließen. Zudem sind Reisen und Sammlungen der beiden Forschungsreisenden auch selbst wieder zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkundung geworden und so werden immer weitere Aspekte ihres Forscherblicks freigelegt. Was bei all dem völlig fehlt, ist der Blick der verschleppten Kinder. Da Juri und Miranha nach wenigen Monaten in München verstarben, gibt es heute keinerlei Möglichkeit, diesen kennen zu lernen. Selbst ein kritischer dekolonisierender Ansatz ist immer darauf angewiesen, aus dem - von europäischem Überlegenheitsgefühl geprägten - Blick der Forscher_innen, der Presse, des Königlichen Finanzministeriums etc. auf die Perspektive der Kinder zu schließen.